Herr Petermann, Herr Dr. Stern, welches sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen bei einer flächendeckenden Umsetzung des Redispatch 2.0?

Bernd Petermann (BNetzA): Die Einführung des Redispatch 2.0 setzt einen sehr hohen Digitalisierungsgrad bei den betroffenen Netzbetreibern voraus. Hier muss dringend nachgebessert werden. Wesentlich ist aber auch die Bereitschaft der Akteure, das Redispatch-2.0-System auf allen übrigen Wertschöpfungsstufen (Anlagenbetreiber, Einsatzverantwortlichen und Bilanzkreisverantwortlichen) zu implementieren. Fehlende Datenmeldungen sind insoweit nicht hinnehmbar. Die detaillierte Kenntnis und Steuerbarkeit des Stromversorgungssystems in Gänze sind essenziell für das Gelingen der Energiewende.

Dr. Robin Stern (QUADRA): Der Bilanzkreisverantwortliche (BKV), meistens der Direktvermarkter, ist unmittelbar von der Umsetzung der Redispatch-Maßnahme betroffen, da seine geplante Erzeugung von außen gesteuert wird. Im ursprünglich geplanten Redispatch 2.0 erhält der Bilanzkreisverantwortliche für die Ausfallarbeit einen bilanziellen Ausgleich – d. h. eine Energiemenge – vom Netzbetreiber. Diese muss im Moment der Redispatch-Maßnahme bestmöglich bekannt sein, da der Bilanzkreisverantwortliche diese Menge live im Handel berücksichtigen muss. Für eine risikoarme Bewirtschaftung einer vom bilanziellen Ausgleich betroffenen Anlage durch den Bilanzkreisverantwortlichen sind rechtzeitige Ankündigungen vor Durchführung der Redispatch-Maßnahme unerlässlich. Ohne Vorabinformation der Redispatch-Maßnahme durch den Netzbetreiber ist der Bilanzkreisverantwortliche im Unklaren über die Erzeugung seiner Anlagen. Ein Ausbleiben der geplanten Produktion, ohne Kenntnis über die Durchführung einer Redispatch-Maßnahme, führt dazu, dass der Bilanzkreisverantwortliche die fehlende Erzeugung ebenfalls an der Strombörse ausgleicht und der bilanzielle Ausgleich doppelt beschafft wird. So wird die Netzstabilität gefährdet und dem Bilanzkreisverantwortlichen entstehen unnötige zusätzliche Kosten. Leider ist bis heute kein Netzbetreiber in der Lage, diese Vorabinformation zuverlässig immer vor Durchführung zu übermitteln. Die Gefährdung der Netzstabilität war schließlich auch der Grund, den ursprünglich geplanten Redispatch 2.0 auszusetzen und die Pilotphase zum bilanziellen Ausgleich zu beenden.

 

Herr Petermann, wie bewerten Sie bisher die Wirksamkeit des Redispatch 2.0 bezüglich der Netzsicherheit und der Integration der erneuerbaren Energien in das System? Welches Resümee ziehen Sie in Bezug auf den Wegfall des bilanziellen Ausgleichs?

Bernd Petermann (BNetzA): Im August 2023 wurde der bilanzielle Ausgleich auf Verteilnetzbetreiber-Ebene ausgesetzt. Das habe ich mit großer Besorgnis aufgenommen. Eine Gefährdung der Systemsicherheit darf durch den Redispatch 2.0 aber keinesfalls eintreten. Insofern war die Aussetzung des bilanziellen Ausgleichs auf der VNB-Ebene alternativlos. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang den Bilanzkreisverantwortlichen, die im Sinne der Systemstabilität und mit großer Besonnenheit geholfen haben und weiterhin helfen, das System zu stabilisieren.

Ebenso wichtig ist mir aber auch der Hinweis, dass auf Ebene der Übertragungsnetzbetreiber der bilanzielle Ausgleich im Redispatch 2.0 fristgerecht umgesetzt werden konnte. Dies betrifft immerhin ganz grob 70 Prozent der Mengen im negativen Redispatch. Damit ist das derzeit bestehende netzübergreifende Optimierungspotential bereits zu einem Großteil gehoben.

 

Herr Dr. Stern, wie hat sich der Redispatch 2.0 auf den Direktvermarktungssektor und die Zusammenarbeit mit Netzbetreibern ausgewirkt?

Dr. Robin Stern (QUADRA): Zuerst einmal sind bei uns sehr viele zusätzliche Aufwände bei der Einführung des Redispatch 2.0 entstanden. Dies betrifft die Etablierung der notwendigen Prozesse, von der Pflege zusätzlicher Stammdaten, die unsere Kunden zu Beginn des Redispatch 2.0 im Jahr 2021 z. T. per Post vom Netzbetreiber zugesendet bekommen haben, über die Abstimmung der Ausfallarbeit mit den Verteilnetzbetreibern bis zur Abrechnung der Ausfallarbeitsmengen. Durch die gleiche Behandlung von Ausfallarbeit und erzeugter Strommenge mussten leider ebenfalls die Dienstleistungsentgelte für von die Redispatch betroffenen Erzeuger angepasst werden. Durch den Wegfall der Einspeisemanagement-Regelung wurde die Branche insgesamt vor die Herausforderung gestellt, neue, adäquate Vermarktungsentgelte für stark vom Redispatch betroffene Parks zu finden. Trotz der stark gestiegenen Aufwände in der Abwicklung der Redispatch-Prozesse haben wir es bisher geschafft, die zusätzlichen Marktrollen für unsere Kunden unentgeltlich anzubieten.

Die Zusammenarbeit mit den Netzbetreibern hat sich mit der Einführung verständlicherweise intensiviert. Für eine zielführende Weiterentwicklung der Redispatch-Prozesse ist ein enger Austausch zwischen Erzeugern und Netzbetreibern nötig.

 

Die BNetzA hat ein Festlegungsverfahren zur Fortentwicklung des Redispatch 2.0 eingeleitet. Wie sieht Ihr Wunsch-System aus?

Bernd Petermann (BNetzA): Der bilanzielle Ausgleich im Redispatch 2.0 sollte zunächst auf die höheren Netzebenen beschränkt werden. Eine Erweiterung auf die unterlagerten Netzebenen sollte schrittweise erfolgen. Es ist noch zu prüfen, ob es dafür einer Anpassung des Rechtsrahmens bedarf. Das zukünftige System muss stärkere Anreize für die einzelnen Akteure bieten, die ihnen zugedachte Rolle bestmöglich zu erfüllen.

Dr. Robin Stern (QUADRA): Im Redispatch 2.0 sind viele gute Ideen enthalten. Beispielsweise das geplante und kostenmindernde Vorgehen der Netzbetreiber bei der Steuerung von erneuerbaren Erzeugungsanlagen. Für Direktvermarkter ist es im Handel an der Strombörse besonders wichtig, zu jeder Zeit eine bestmögliche Informationslage zur aktuellen Einspeisung zu haben. Der bilanzielle Ausgleich ist hierbei eine Unsicherheitskomponente, da Ausfallarbeit wie Einspeisung behandelt wird. Die Ausfallarbeit ist oftmals Gegenstand von Klärfällen beim Netzbetreiber. Damit kann sich diese nachträglich ändern und so besonders teure Ausgleichsenergiepositionen entstehen. Die Beschaffung des bilanziellen Ausgleichs dem Bilanzkreisverantwortlichen zu überlassen, wie in der jetzt praktizierten Übergangslösung, ist unter den aktuellen Gegebenheiten das einzig sinnvolle. Jedoch sind die Rahmenbedingungen nachteilig für den Bilanzkreisverantwortlichen. Die Planung und Dimensionierung der Redispatch-Maßnahmen, im Zusammenhang mit der Information an den Bilanzkreisverantwortlichen, müssen sich deutlich bessern. Die finanzielle Kompensation durch den Mischpreis deckt die Kosten der Beschaffung des bilanziellen Ausgleichs nicht. Auch trägt der Bilanzkreisverantwortliche die Handelsgebühren, Personalkosten und das Risiko bei der Beschaffung des bilanziellen Ausgleichs für die Netzbetreiber. Auch wenn wir ein Anreizsystem, den bilanziellen Ausgleich kostenmindernd zu beschaffen, begrüßen, ist es dem Bilanzkreisverantwortlichen gegenüber unfair, wenn die Beschaffung auch bei bestmöglicher Bewirtschaftung Kosten produziert. Hier besteht dringender Handlungsbedarf bei der Gestaltung des sogenannten Mischpreises.

Darüber hinaus würden wir uns ein Gutschriftverfahren anstatt eines Rechnungsverfahrens zur Kompensation des Bilanzkreisverantwortlichen wünschen. Dadurch würde es für den Bilanzkreisverantwortlichen obsolet, seine Rechnung an den Netzbetreiber zu stellen, unterschiedliche Formate implementieren zu müssen und regelmäßig Rechnungen stornieren zu müssen, weil sich die Ausfallarbeitsmengen im Bilanzkreis geändert haben. Der Geldfluss zum Anlagenbetreiber könnte somit deutlich effizienter gestaltet werden.

Weiterhin muss der Netzbetreiber ebenfalls einen wirtschaftlichen Anreiz haben, die Vorabinformationen an den Bilanzkreisverantwortlichen vor Durchführung der Redispatch-Maßnahme zu versenden. Die fehlende Information, wann eine Redispatch-Maßnahme beginnt, ist besonders teuer und es entstehen in der Folge unnötigerweise Systemungleichgewichte im Netz. Heutzutage wären wir froh, wenn überhaupt alle Netzbetreiber zur Marktkommunikation fähig wären.

Die angesprochenen Punkte sind dabei nur die größten Problemfelder aus Sicht des Direktvermarkters.

 

Über die Interviewpartner

Bernd Petermann ist Jurist. Von 2004 bis 2007 war er als Rechtsanwalt in den Schwerpunktbereichen Sozial- und Verwaltungsrecht tätig. 2007 begann er seine Tätigkeit als Referent bei der Bundesnetzagentur in der Beschlusskammer 9, die die Netzentgelte der Gasinfrastruktur reguliert. Seit 2013 ist er Beisitzer der Beschlusskammer 8, die mit der Regulierung der Netzentgelte im Bereich Elektrizität betraut ist. Er ist unter anderem Berichterstatter in dem Verfahren zum finanziellen Ausgleich nach § 13a EnWG.

Dr. Robin Stern ist promovierter Physiker und seit 2017 für QUADRA energy tätig. Sein Verantwortungsfeld liegt im Bereich der Automatisierung und Optimierung datengetriebener Prozesse sowie Data Science. Seit 2020 ist er Teil des Projektteams zur Einführung des Redispatch 2.0. Unter seiner Leitung wurden die Anforderungen der neuen Marktrollen und Prozesse im Redispatch 2.0 implementiert. Zusätzlich engagiert er sich in der BDEW-Projektgruppe zu Umsetzungsfragen des Redispatch 2.0.

 


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